Vortrag II
von Roland Halang
Was hat es auf sich mit dem Kölbigker Tanzwunder?
1. Der Große Seelentrost – allgemeine kirchliche Warnung vor dem Tanzen
Der Große Seelentrost1 ist ein niederdeutsches Erbauungsbuch des 14. Jahrhunderts, dass Trost spenden soll in schwierigen menschlichen Situationen und darüber hinaus eine Richtschnur sein soll für ein „geordnetes“ Leben. Es arbeitet mit moralischen Ermahnungen und kirchenrechtlichen Drohungen. Im hier erörterten Fall findet sich eben die Ermahnung an die Leserschaft, an bestimmten „heiligen“ Tagen nicht zu tanzen und zudem die Aufforderung, um das Seelenheil und Gottes Segen nicht zu verlieren, überhaupt dem Tanzen und allen irdischen Freuden eine Absage zu erteilen. So weit, so gut!
Der Große Seelentrost, weit verbreitet auch als Alexanderroman bezeichnet, da er eine Erzählung über Alexander enthält, die ganz allgemein vor der Gier warnen sollte und deshalb ohne Eigennamen auskam2, enthält eine Sammlung von ca. 200 Exempeln, wobei das längste und wichtigste Exempel die Erzählung über Alexander ist. Im Großen Seelentrost findet sich in niederdeutscher Sprache im Chapter: 3_4, das Exempel 4. „Die Tänzer von Kolbeke“ mit folgendem Text.3
„4. Die Tänzer von Kolbeke
Dat geschach in deme lande to Sassen in eyneme dorpe, dat het Kolbeke. In des hilgen kerstes nacht, do men de mettene sangk, do stunden vrie lude vppe deme kerkhoue, vnde eyn sprak to den anderen: 'Wil wij eyn weynich springen, dat wij warm werden.' Dar begunden se to dansen vnde sprungen. Do de prester beghynnen scholde des hilgen kerstes mysse, do genk he vt vnde bat se, dat se affleten. Se enleten nicht aff. Do sprak he: 'Nu geue god vnde de hilge here Sunte Magnus, de hijr houet here ys, dat gij aldus eyn gantz jar moten springen vnde dansen.' Dat geschach. Se danseden so al dat jar vmme, dat se nu enrauweden, vnde newisten nicht vmme de synne. Des presteres dochter was in deme danse. Ere broder quam vnde grep se bij deme arme vnde wolde se affteyn vnde toch ere den arm vte deme liue, vnde dar negenk neyn blot vth. Nochtan dansede se vort myt eyme arme. Dat wunder quam ouer al dat lant. Dar togen de lude to van verne landen vnde sogen den jamer an den luden. Ere cledere vnde ere scho vorsleten nicht, vppe se ne vel neyn sne noch regen. Se hadden gesprungen eyne kulen in de erden bitte to deme gordele. Do dat jar vmme quam, do horden se vp. Do brochtemen se vor dat altar. Dar legen se vnde slepen dre dage vnde dre nacht, do worden se vntwaken. Ichteswelke lude storuen alto hand, ichteswelke lude leueden nicht lange dar na. Erer weren oueral vifteyn man vnde dre fruwen. -Kint leue, lat dij dijt eyn lere wesen. Kynt leue, du ne schalt nicht allene dansen vormyden in deme hilgen dage, sunder ock to allen tij den schaltu vormyden den dans vnde allerleye erdesche vraude, vppe dat dij god geue de ewigen vraude. Hijr van wil ik dij eyn bylde seggen:“4
1 | Schmitt, Margarete (Hg.) - Der Große Seelentrost. Ein niederdeutsches Erbauungsbuch des vierzehnten Jahrhunderts. Köln [u. a.]: Böhlau, 1959 (Niederdeutsche Studien; 5) und Wikipedia: http://titus.uni-frankfurt.de/ texte/etcs/germ/mnd/a_seelen/a_see.htm , Chapter: 3_4 , 4. Die Tänzer von Kolbeke |
2, 3 | ebd., Wikipedia, 12.08.2021, Der Große Seelentrost |
4 | Übersetzung ins Hochdeutsche: „Dies geschah in dem Land Sachsen in einem Dorf, das Kölbigk heißt. In der Heiligen Christnacht, als man die Messe sang, da standen freie Leute auf dem Kirchhof, und einer sprach zu den anderen: ‚Wollen wir ein wenig springen, damit wir warm werden?‘ Da begannen sie zu tanzen und zu springen. Als der Priester die Christmesse beginnen sollte, ging er hinaus und bat sie, aufzuhören. Sie jedoch ließen nicht ab. Da sprach er: ‚Nun gebe Gott und der heilige Herr Sankt Magnus, der hier Hauptpatron ist, das ihr eben so ein ganzes Jahr springen und tanzen müsst. Das geschah. Sie tanzten so das ganze Jahr über, was sie nun nicht bereuten und nicht verstanden. Des Priesters Tochter war bei dem Tanz dabei. Ihr Bruder kam und griff sie bei dem Arm und wollte sie herausziehen, und zog ihr doch nur den Arm aus dem Leib. Und da floss kein Blut heraus. Fortan tanzte sie mit einem Arm weiter. Die Nachricht von diesem Wunder ging durch alle Lande. Da zogen die Leute aus der Ferne hin und betrachteten den Jammer an den Tanzenden. Ihre Kleider und ihre Schuhe verschlissen nicht, auf sie fiel kein Schnee und kein Regen. Sie hatten eine Grube bis zum Gürtel in die Erde getanzt. Als das Jahr um war, hörten sie auf. Da brachte man sie vor den Altar. Dort lagen sie und schliefen drei Tage und drei Nächte, bis sie geweckt wurden. Einige Leute starben sogleich, einige Leute lebten darnach nicht mehr lange. Insgesamt waren ihrer fünfzehn Mann und drei Frauen. – Liebes Kind, lass Dir das eine Lehre sein. Liebes Kind, du sollst nicht nur das Tanzen an dem heiligen Tage vermeiden, sondern auch zu allen anderen Zeiten sollst Du dem Tanz und allen anderen irdischen Freuden aus dem Weg gehen, auf dass Dir Gott die ewige Freude gebe.“ |
2. Die Tanzwundersage in der örtlichen Rezeption
Was aber hat der Tanz von Kolbeke, von dem hier in dieser Geschichte die Rede ist, mit dem berühmten und vielseits bekannten „Tanzwunder von Kölbigk“ zu tun? Heute ist Cölbigk ein Ortsteil von Ilberstedt, jedoch mit „C“ geschrieben, also „Cölbigk“.
So soll damals der Sage nach in Colbizce ein Priester mit Namen Ruthbertus oder Ruprecht eine Gruppe Jugendlicher zu Weihnachten im Jahre 1020 (1018?) verhext haben. Sie hatten offenbar viel Lärm vor der Kirche gemacht, während drinnen der Gottesdienst gefeiert wurde. Ruprecht mahnte die Gruppe zur Ruhe. Als das nichts half, verwünschte er die Menge, worauf sie ein Jahr lang ununterbrochen tanzen musste. Erst der Bischof von Köln konnte den Fluch beenden.
Dieses Ereignis, nennen wir es ruhig einmal Strafwunder, hat sich tief in das kollektive Gedächtnis des Mittelalters eingegraben, weshalb sich das Kölbigker Tanzwunder in allen damaligen namhaften Predigtsammlungen (Predigtmärlein), Exempelwerken und geistlichen Erbauungen etc. als warnendes Beispiel für die Bestrafung eines frevelhaften Verhaltens Eingang wiedergefunden hat. In den Jahrhunderten danach war dieses Ereignis ein populärer Erzählstoff z. B. bei den Brüdern Grimm in deren Sammlung „Deutsche Sagen“ (1816, Nr. 231)5 und bei Ludwig Bechstein „Das große deutsche Sagenbuch“ (1853, Seite 275, Nr. 314)6 und ist deshalb auch bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.
In der ehemaligen „(K)Cölbigker“ Klosterkirche sollen sich an den Wänden auf Wandtafeln zwei Berichte über diesen Wundertanz sowohl in lateinischer wie auch in deutscher Sprache wiedergefunden haben mit folgendem Wortlaut:
„Nach Christi Geburt im Jahre 1020 bei des Kaisers Heinrich Zeiten - er ist gewest ein Herzog von Bayern - hat sich begeben dies Mirakel, dass sich hier in dieser Kirchen, die geweiht ist worden in den Ehren Gottes und St. Magnus, etliche Bauersleute zusammengetan auf das Fest der heiligen Christnacht und allda gesungen und gesprungen auf dem Kirchhofe zu Kölbigk dermaßen, dass der Priester Ruprecht sein Amt nicht vor ihnen verbringen hat können, hat sie sodann hochlich ermaht, um Gottes Willen von solch Vornehmen abzusehen - hat alles nicht sein wollen. Der Bauern aber sind gewest 15, zwee Frauen und eene Jungfrau, die ist gewest des Kirchners Schwester. Als nun des Priesters Vermahnen an ihnen nicht versährt, hat er gesagt: „Ei, nun gebe Gott und Sankt Magnus, dass ihr ein ganzes Jahr also singen und tanzen müsst!“ Also hat obgedachter Kirchner seine Schwester vom Tanze wollen reißen bei einem Arm, hat ihm der Arm erschrecklicher Weise von ihrem Leibe gefolgt. So haben sie darnach ein ganz Jahr all um getanzt und bis unter ihre Gürtel Kulen in die Erde getanzt, und ihre Kleider sind nicht veraltet, ihre Schuhe nicht zerrissen, Haar und Bart unversehrt ge- blieben, auch weder Regen noch Schnee sind auf sie gefallen.
Als das Jahr verschlissen, sind gekommen hierher gen Kölbigk die heiligen zween Bischofe, der von Köln, der von Hildesheim mit anderen andächtigen Vätern und haben Gott mit Ernst angerufen und gebeten, dass Gott der Allmächtige dies Mirakel von diesen armen Menschen wollt gnädiglich wenden. Also hat sie Gott durch dieser heiligen Väter Gebet entledigt von solcher Strafe und schrecklicher Plage. Darnach nach ihrer Entledigung sind sie gekommen vor den hohen Altar, haben niedergekniet und sind alle entschlafen drei Tage und drei Nächte und sind ihrer vier von ihnen gestorben; die anderen sind aufgestanden und haben Gott den Allmächtigen gepreiset und Danksagung getan. Dem sei Lob, Ehr und Preis in Ewigkeit! Amen!“
Diese Rezeption eines Berichtes über das Kölbigker Tanzwunder, nämlich über den Bericht des Othbert in einer Bettelautorisierung des Kölner Erzbischofs Pilgrim im Jahre 1021, wurde erst viele Jahre später in der Kölbigker Klosterkirche auf Sandsteinwandtafeln wiedergegeben.
5 |
Brüder Grimm - Deutsche Sagen, 1816/18, Nr. 231, „Die Bauern zu Kolbeck“, (3. Auflage, Deutsche Sagen, 1865, Nr. 232, „Die Tänzer von Kölbigk“) |
6 |
Bechstein, Ludwig – Das große Deutsche Sagenbuch, 1853, S. 275, Nr. 314, „Die Tänzer von Kolbeck“, https://books.google.de/books?id=AU4WAAAAYAAJ&pg =PA275&redir_esc=y#v=onepage&q&f=false |
3. Der Othbert-Bericht als ältester Nachweis des
Kölbigker Wunder- oder Straftanzes
Originalberichte über die Tanzwundersage in den zwanziger Jahren des 11. Jahrhunderts am Ort des Geschehens sowie in der weiteren Umgebung gibt es offenbar leider nicht. Entstanden sind die Originalhandschriften über das Kölbigker Tanzwunder, - er sei hier ruhig einmal Wunder- oder Straftanz genannt -, etwas später im Einwirkungsbereich des Kölner Erzbistums, zu dem damals auch Lüttich und Echternach gehörten. So hat der Kölner Erzbischof Pilgrim, der Nachfolger des Kölner Erzbischofs Heribert, der später heiliggesprochen wurde, im Jahr 1021 eine Bettelautorisierung (Bettelbrief) ausgestellt, die bis heute als der älteste Beleg für das Kölbigker Tanzwunder gilt, und folgenden Text umfasst:
„Ich armer Sünder Othbert will allen, die es lesen wollen, meine Sünde bekennen, um bei Gottes Barmherzigkeit ein Almosen zu erlangen. Unserer waren 15 Männer und 3 Frauen in dem Orte Kolbek in Sachsen, wo der heilige Magnus das Martyrium erlitt. Auf den Rat des Teufels tanzten wir in der Weihnachtnacht vor der Kirche einen Reigen, anstatt der Messe beizuwohnen. Unsere Gesänge und Tänze störten den Priester Ruthberth beim Gottesdienste. Er trat daher aus der Kirche und bat uns, von dem Treiben abzulassen. Wir verlachten seine Mahnung; da betete er: Gottes Allmacht und die Verdienste des heiligen Magnus mögen bewirken, daß ihr ein ganzes Jahr so forttanzen müßt. Wir aber tanzten weiter. Am Tanze nahm aber auch teil die Tochter des Priesters, Merswind. Ihr Bruder Johannes ergriff sie beim Arm, um sie vom Tanze fortzuführen. Aber der Arm riß aus dem Körper, ohne daß ein Tropfen Blut floß. Merswind mußte ohne Arm weitertanzen. Nach sechs Monaten waren wir bis an die Knie in die Erde eingetanzt. Das ganze Jahr haben wir nicht gegessen und getrunken. Nichts taten wir als singen und tanzen. Oft versuchte man, obschon wir vom Regen nicht naß wurden, ein Schutzdach über unserer Runde zu errichten. Durch einen Wink Gottes wurde es immer wieder abgeworfen. Kleider und Schuhe zerrissen nicht, Haare und Nägel wuchsen nicht. So mußten wir unsere Runde forttanzen bis zur Weihnachtsnacht des nächsten Jahres. Da kam der heilige Bischof von Köln, Heribert, betete über uns und befreite uns von dem Banne. Gott ist Zeuge, daß wir dann drei Tage und drei Nächte vor dem Altare des heiligen Magnus schliefen. Einige starben darauf und glänzen jetzt durch Wundertaten; einige behielten das Leben, jedoch ein Zittern in den Gliedern und singen Gottes Lob. Dies alles aber ist geschehen im Jahre 1021.“(Übersetzung: Schröder: Fassung I)7
Der Othbert-Bericht trägt in dem im nächsten Punkt dargestellten Stemma die Bezeichnung „Fassung 1“. Von ihm gibt es acht bekannte, sehr ähnlich bis fast identisch gelagerte Abschriften aus dem 11. Jahrhundert (Fassung I); die in Rede stehenden acht Handschriften (Hs 1 bis 8) als Abschriften des Othbert-Berichts befinden sich in folgenden Archiven bzw. an folgenden Standorten:
- Merseburg, Dombibliothek, Nr. 96, Pergament, 12./13. Jh., fol. 131b-132b, deutsche Handschrift,
- Leipzig, Stadtbibliothek, Handschrift CXCIV -, (Rep. II. fol. 64), Pergament, 12./13., fol. 104b, deutsche Handschrift
- ehemals Kölbigk, Plakat in der Kirche nach einer älteren Abschrift von Christian Knaut in seinen Antiquitates comitatus Ballenstadiensis et Ascaniensis (Cöthen 1698) p. 97sq. publiziert, deutsche Handschrift
- Haag, Kgl. Bibliothek, `s-Gravenhage 128 E 14, Pergament 13. Jh., fol. 49b-50a; N. A. A. 78 (906)
- Paris, Nationalbibliothek, ms. lat. 18108, Pergament 13. Jh., fol. 75b-76a
- Reims, Stadtbibliothek, ms. 1149, Pergament 12. Jh. , fol. 211b-212a, (früher K. 786/769)
- Paris, Nationalbibliothek, ms. lat. 5129, Pergament 12./13. Jh., fol. 67b-68a
- Brüssel, Königliche Bibliothek, Nr. 9823 – 9834, Pergament, ausgehendes 12. Jh., fol. 146a-147a.8,9
7 |
Die hier verwendete Übersetzungsfassung des sogenannten Othbert-Berichts aus dem Mittelalterlatein ins Hochdeutsche des Altgermanisten Dr. Edward Schröder, seinerzeit Professor der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Marburg aus dessen Werk „Die Tänzer von Kölbigk, ein Mirakel des 11. Jahrhunderts“ in: Zeitschrift für Kirchengeschichte XVII, aus dem Jahre 1896, Seite 94 bis 194.trägt die Bezeichnung "Schröder: Fassung I". Der Bericht des Theodericus im alten Kloster Wilton in England trägt die Bezeichnung "Schröder: Fassung II" und die III. Fassung, die sog. Pariser Handschrift in der Pariser Nationalbibliothek, trägt die Bezeichnung "Schröder: Fassung III". |
8 |
Borck, Karl-Heinz - Der Tanz zu Kölbigk, Überlieferung und dichtungsgeschichtliche Bedeutung, Diss. phil. masch. Münster 1951, Seite 3 – 4; Ders. Der Tanz zu Kölbigk, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 78 ( 1954), S. 241 - 320 |
9 |
Schröder, Edward –Die Tänzer von Kölbigk, Ein Mirakel des 11. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte XVII 1896(/1897) Seite 94 -164; Ders. – Das Tanzlied von Kölbigk, in: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen, Fachgruppe IV (Neuere Philologie und Literaturgeschichte 17) (1933), S. 355 - 372 |
4. Zur Herkunft der beiden weiteren erschließbaren ältesten Berichte
über das Kölbigker Tanzwunder
Neben dem Othbert-Bericht gibt es zwei weitere wesentliche Berichte über das Tanzwunder von Kölbigk aus dem 11. Jahrhundert, die wegen ihrer Ähnlichkeit der Inhalte untereinander und auch zum Othbert-Bericht letztendlich auf einen vorhergehenden sogenannten Urbericht (Archetyp) zurückzuführen sein müssen. Dieser Archetypus ist jedoch verschollen bzw. nicht bekannt. Unbestritten ist es jedoch, dass es zumindest eine noch frühere Urfassung (Archetyp oder Fassung *I/II/III = *III?) gegeben haben muss. Metzner jedenfalls versucht herzuleiten, dass es darüber hinaus noch einen weiteren Urbericht (- aus der Region, in der das Tanzwunder stattgefunden hat -) geben müsse, den er den Urbericht Typ „0“ nennt. Es gibt mehrere Versuche einer Rekonstruktion des Archetyp, so z. B. von Karl-Heinz Borck10 und Ernst-Erich Metzner11, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden soll.
Die Fassung II trägt die Bezeichnung „Bericht des Theodericus“ und wurde seinerzeit im südenglischen Kloster Wilton von dem aus Flandern stammenden Mönch und Hagiographen Goscelin von Canterbury verfasst und stellt ebenfalls einen Augenzeugenbericht eines am Reigen Beteiligten namens Theodericus dar, der auch als Bußpilger nach einer jahrzehntelangen Wanderschaft zur Zeit König Edward des Bekenners (geboren um 1004, Kg. 1042 bis 1066)12 nach dem Tanzwunder in das Kloster Wilton kam.
Von dieser Fassung II gibt es ebenfalls, wie nachfolgend aufgezeigt, nur wenige ähnlich gelagerte Handschriften englischer und nordfranzösischer Herkunft, die an folgenden Standorten oder Archiven abgelegt sind:
- Paris, Nationalbibliothek, ms. lat. 6503, Pergament 12. Jh., fol. 61
- Oxford, Bodleiana Ms. Rawlinson C 938, Pergament 13. Jh., fol. 22b - 24
- Oxford, Bodleiana Ms. Fairfax 17, Pergament 12. Jh. (ohne Paginierung)13
5. Cambridge, Trinity College Library, Ms. 3.56., Pergament, 13. Jh., fol. 44a-46b14a
„Die von Schröder an vierter Stelle angeführte Handschrift scheidet aus, da sie nur in einem späten Abdruck erhalten ist.“14b (Def.: Ms. = Manuskript)
Die dritte wesentliche Handschrift Ms. lat. 9560 der Pariser Nationalbibliothek ist Bestandteil einer Sammlung von Predigten Gregors des Großen. Auf dem Vorsatzblatt dieses Codex hat [etwa um 1100] eine etwas spätere Hand die nur hier überlieferte berichtsförmige Fassung des Kölbigker Tanzmirakels eingetragen.15 Diese Eintragung im Vorsatz einer Homiliensammlung16 verweist auf eine Verwendung dieses Textes ausschließlich als Predigtexempel.17
Dass es sich bei der „Chorea famosa“, jenem ruchlosen, furchtbar bestraften Tanz in der Christnacht auf dem Kirchhofe zu Kölbigk um ein wirkliches Vorkommnis aus der Regierungszeit Kaiser Heinrich des II. handelt, unterliegt nach dem Marburger Professor Edward Schröder in seiner Abhandlung „Die Tänzer von Kölbigk. Ein Mirakel des 11. Jahrhunderts“,1897, wenn auch von erregter Phantasie und demnächst von geschickter Mache ins grausige und mirakelhafte gesteigert, [aber] keinem Zweifel. Merkwürdig sei nur, dass die Geschichtsquellen jener Zeit im Übrigen ganz davon schweigen. Man könne daraus leicht die Vermutung schöpfen, so Schröder, dass die sagenhafte Umbildung nicht direkt aus den Eindrücken erwachsen sei, die sich am Orte selbst gebildet hatten.18
10 | Borck, Karl-Heinz, ebd., Seite 96 - 99 |
11 | Metzner, Ernst Erich - Zur frühesten Geschichte der europäischen Balladendichtung. Der Tanz von Kölbigk. Legendarische Nachrichten. Gesellschaftlicher Hintergrund. Historische Voraussetzungen, Athenäum Verlag GmbH, Frankfurt/Main 1972 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik, Band 14) |
12 | Rohmann, Gregor - Tanzwut: Kosmos, Kirche und Mensch in der Bedeutungsgeschichte eines mittelalterlichen Krankheitskonzepts, in: Historische Semantik, Band 19, Vandenhoeck und Ruprecht, 2013 (hier speziell: VI. Von der Kirche als Reigen zum blasphemischen Tanz: Die Kölbigker Legende als Paradigma, Seite 363 – 493), Seite 405 bis 406 |
13 | Borck, Karl-Heinz, ebd. Seite 123 – 125 |
14 | Borck, Karl-Heinz,. Seite 15 |
15 | Rohmann, Gregor, ebd. Seite 395 |
16 | In der römisch-katholischen Kirche bezeichnet der Begriff „Homilie“ die Predigt innerhalb der Heiligen Messe, in - der die vorgetragenen biblischen Lesungen ausgelegt werden […]. An Sonntagen und gebotenen Feiertagen ist die Homilie in allen Messen, die mit Beteiligung des Volkes gefeiert werden, verbindlicher Bestandteil der Liturgie; sie darf nur aus schwerwiegendem Grund entfallen. An anderen Tagen wird sie empfohlen. Wikipedia, 13.08.2021, https://de.wikipedia.org/wiki/Homilie |
17 | Rohmann, Gregor, ebd., Seite 395 |
18 | Schröder, Edward – Die Tänzer von Kölbigk. Ein Mirakel des 11. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kirchen- geschichte XVII 1896(/1897); S. 95 |
5. Grafisch rekonstruierte Überlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Berichte über das „Kölbigker Tanzwunder“
Von den im nachfolgenden Stemma (Überlieferungsstammbaum) aufgeführten ältesten Handschriften Fassung I, II und III und von ihren vorstehend genannten nachfolgenden Handschriften aus dem 11. bis zum 13. Jahrhundert stammen alle späteren (Nachfolge)Berichte über das Kölbigker Tanzwunder in sogenannten Predigtsammlungen (Predigtmärlein), Exempelwerken (Exemplumsammlungen) und geistlichen Erbauungen etc. ab. Darauf aber kommen wir später noch zu sprechen.
Neben den genannten acht Handschriften zum Othbert-Bericht als Nachfolgeabschriften des Othbert-Berichts in der Fassung: Schröder I gibt es noch zwei weitere erwähnenswerte Quellen, die den Othbert-Bericht in ihre Werke übernommen bzw. eingearbeitet haben: Zum einen [9. Mönch Bernhard Witte (latinisiert Wittius, geb. um 1460/65 in Lippstadt (Nordrhein-Westfalen), seit 1490 Mönch im Kloster Liesborn) in seinem bis 1517 verfassten Hauptwerk „Historia antiquae occidentalis Saxoniae seu nunc Westphaliae"19 und [10. Wilhelm von Malmesbury, der noch vor Mitte des 12. Jahrhunderts für das Jahr 1012 (vermutlich Verlesung!) den Bericht des Othbert mit geringen Kürzungen in die sagenhafte Partie seiner „Gesta regum Anglorum“ Lib. II, 174 übernahm20. Zudem wäre noch von Vinzenz von Beauvais mit seinem Speculum historiale zu nennen, der zur Verbreitung der Tänzersage wesentlich beigetragen hat.
Edward Schröder vermutet, dass aus lateinischen Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts, besonders in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, aber auch in England noch mehr Texte zu Tage kommen könnten, weil sich der Othbert-Bericht als Blattfüllsel in verschiedenen historischen Sammlungen wiederfände bzw. enthalten sei. Auf ähnliche Weise durften Albert von Stade und der unbekannte Verfasser der Erfurter Chronica minor (beides Franziskaner-Minoriten) zur Kenntnis eines Exemplars gelangt sein. Sie sind, abgesehen von dem westfälischen Benediktinermönch Bernhard Wittius im Jahr 1517, gedruckt in Münster 1778, die letzten, welche den Originalbericht Othberts direkt benutzt haben.22
Neben diesen beiden Minoriten (Albert von Stade und dem o. e. Erfurter Minorit) hat vor allem Vinzenz von Beauvais für eine große Verbreitung des Othbert-Berichts gesorgt, weil er den Bericht von Wilhelm von Malmesbury ausgeschrieben hat.
Zur deutschen Handschriftenfamilie (deutsche Gruppe) gehören also die drei Handschriften 1., 2. und 3. (siehe vorstehend auch Seite 6). Hinzu kommen noch die Vorlagen von Bernhard Witte (Wittius) und des Wilhelm von Malmesbury [9. 10.]. Dieser deutschen Gruppe stehen die Handschriften 4., 5., 6., 7., 8. als französische Gruppe gegenüber. Edward Schröder zieht es für seine weiteren Ausführungen vor, den Text der deutschen Gruppe in seinen weiteren Überlegungen zu verwenden und natürlich - wie die anderen beiden Fassungen II. und III. - auch zu übersetzen, weil er davon ausgeht, dass die deutschen Handschriften, und hier speziell die Handschrift 1., weniger Zwischenstufen durchgemacht haben und damit dem Archetypus am nächsten kommen.23
„Zwei Jahrhunderte hindurch hat sich die Verbreitung des Mirakels [also] fast ausschließlich einzelner Pergamentblätter bedient, deren Wortlaut mehr zufällig als Lückenbüßer oder Anhang seinen Weg in Mischhandschriften gefunden hat.[…]“24
„Die Brüder Grimm, welche 1816 die Geschichte der „Bauern von Kolbeck“ in ihre „Deutsche Sagen“ aufnahmen, schöpften sie lediglich aus thüringischen und hessischen Chroniken des 15. und 16. Jahrhunderts, und auch später sind sie (2. Aufl. Bd. I, S. 275) nicht über Heinrich von Herford hinaufgestiegen. Sie hätten zunächst über den westfälischen Dominikaner noch einen niedersächsischen und eine thüringischen Franziskaner, Albert von Stade und den Verfasser der Erfurter Chronica minor stellen können: diese beiden sind es. die um die Mitte des 13. Jahrhunderts das Kölbigker Tanzwunder von 1021 zuerst in die Darstellung der deutschen Geschichte eingeflochten haben, wo es dann in mehr oder weniger festem chronologischem Rahmen bis zu den Tagen der Aufklärung weitergeführt worden ist und überdies den verschiedensten Tendenzen und Weltanschauungen hat als Exemplum dienen müssen.“25
Bisher lag mein hier kundgegebenes Interesse an der Sage über das Tanzwunder von Kölbikgk in der Geschichte ihrer Ausbreitung, die sich in erster Linie als literaturgeschichtliche Aufarbeitung darstellte. Nunmehr geht es mir nach einer synoptischen Gegenüberstellung der drei wesentlichen Fassungen um eine zielgerichtete Interpretation des historischen Kontextes, in der das Tanzwunder von Kölbigk stattgefunden hat und dahingehend, was die seinerzeitigen kirchenreformatorischen Kräfte gelenkt haben mag, so wie es Edward Schröder zum Ausdruck gebracht hat, den Urbericht bzw. ihre Beiträge in geschickter Mache in grausige und mirakelhafte Form zu steigern. Außerdem ist die Frage von Bedeutung, warum sich dieses Mirakel, oder besser diese Sage, so sehr über die Jahrhunderte erhalten und zeitweise auch Generationen geprägt hat. Als kirchliches Exemplum verwandt, wurde es nämlich sehr gezielt genutzt, die Menschen für den Glauben zu gewinnen, oder besser, ihnen vor Augen zu führen, was passieren kann, wenn man nicht den kirchlichen Geboten Folge leistet.
Grafisch rekonstruierte Überlieferungsgeschichte der wichtigsten mittelalterlichen Berichte über das „Kölbigker Tanzwunder“ hier
Aber auch die Versuche einer Rekonstruktion der Vorgängerberichte bis hin zum Urbericht (Archetypus) zu den drei Berichtsfassungen I., II. und III. steht noch im Interesse dieser Abhandlung.
Wir können aber zunächst folgendes festhalten:
Mit der Aufnahme unserer Geschichte vom Tanzwunder zu Kölbigk in das Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais26,27 hat sich die Verbreitung und Bekanntheit der Tanzwundersage in enormer Art und Weise erhöht, denn „Aus dem Speculum historiale ist die Geschichte mit oder ohne Nennung dieser Autorität dutzendfältig ausgehoben worden, bald buchstäblich, sogar mit der Überschrift und ihrer Quellenangabe, bald in mehr oder weniger ungekürzten Auszügen. Sie wanderte gelegentlich in dieser Fassung nach England zurück, wo z. B. das sogen. Chronicon des John Bromton, in Wahrheit eine Kompilation des 14. Jahrhunderts (Historiae anglicanae scriptores X ed.Twysden, Lond. 1612, p. 891), aus Vinzenz von Beauvias und nicht aus Wilhelm von Malmesbury schöpft, und sie fand in dem Lande, dem der Schauplatz der Sage angehört, in Deutschland eine größere Verbreitung als alle älteren Versionen zusammen-genommen.“28 Vinzenz von Beauvais wiederum hat aus Wilhelm von Malmesbury „De rebus gestis Anglorum, liber II, 174 (MG SS X, 464-65)“29 geschöpft, dem seinerzeit unzweifelhaft der Kölbigker Wunderbericht in der sehr verbreiteten Fassung des Orthbert-Berichtes vorlag. Daher hat sich auch die Jahreszahl 1012 stark verbreitet, was eher auf eine Verlesung im „Gestica Anglorum“ des Wilhelm von Malmesbury zurückzuführen sein dürfte. Im Othbert-Bericht ist die Jahreszahl MXXI genannt, im Gestica Anglorum wird stattdessen MXIII genannt; ein undeutliches X könnte zur Verlesung in II geführt haben. was neben anderen Auffälligkeiten bzw. Ähnlichkeiten zwischen dem welthistorischen Teil der großen Enzyklopädie des Vinzenz von Beauvais und dem liber II der Gestica Anglorum ganz eindeutig als Beleg dafür gilt, dass von Beauvais aus Wilhelm von Malmesbury („Guillermus“) schöpft und dieser wiederum aus der Bettelautorisierung des Othbertus (Othbert-Bericht). In letzterem ist für die Jahresangabe der Abfassung des Berichtes über den einjährigen Straftanz 1021 (MXXI) angegeben. So könnte Wilhelm von Malmesbury bei einer undeutlichen Schreibweise in der ihm vorliegenden Fassung des Orthbert-Berichtes anstatt MXXI auch MXIII (1013) herauslesen und in seinem liber II, 174 des „De rebus gestis Anglorum“ als Datum des Beginns des einjährigen Straftanzes 1012 resümiert haben. Dieser Fehler ist nur bei Wilhelm von Malmesbury in seiner Gestica Anglorum aufgetreten und eben in der Folge der Übernahme des Tanzwunderberichtes aus dem Gestica Anglorum in das Speculum historale auch bei von Beauvais.
„Erst seit Vinzenz von Beauvais gehört das sächsische Tanzwunder [also] allgemein zum festen Tatsachenbestand der Weltgeschichte, und mehr noch als die Historiker tragen die Prediger und Moralisten des ausgehenden Mittelalters dazu bei, das grausige Exempel populär zu machen. Wo irgend in diesen tanzlustigen Jahrhunderten vor den Sünden und Gefahren des Tanzes gewarnt, wo die Heilighaltung des Sonntags und der Respekt vor dem Priester eingeschärft wird, da können wir darauf gefasst sein, den Tänzern auf dem Friedhof des Heiligen Magnus zu begegnen. Sie befinden sich da gern in der Nach-barschaft der [Israeliten], die ums goldene Kalb tanzen, und der Tochter des Herodias.“30
synoptische Gegenüberstellung der drei wesentlichen Berichte: hier
19 | "Die Geschichte des alten Westen Sachsens oder jetzt Westfalen" |
20 | Schröder, Edward, ebd.,Seite 98 |
21 | Schröder, Edward, ebd., Seite 99 - 100 |
22 |
Stemma zum Kölbigker Tanzwunder in Anlehnung an Karl-Heinz Borck - "Der Tanz zu Kölbigk", Überlieferung und dichtungsgeschichtliche Bedeutung, Diss. phil. masch. Münster 1951, Seite 36 - siehe Link |
23 | Schröder, Edward, ebd., Seite 103 |
24 |
Schröder, Edward, ebd., Seite 96 |
25 |
Schröder, Edward, ebd., Seite 95 |
26
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Vinzenz von Beauvais, „Speculum maius“; die umfassendste Enzyklopädie des Mittelalters, die zwischen 1240 und 1260 mehrfach umgearbeitet wurde. In der Endfassung besteht sie aus drei Teilen: dem Speculum naturale, Speculum doctrinale und Speculum historiale. Dort hat unsere Geschichte den Platz XXVI, 10; und Karl-Heinz Borck, ebd., Seite 173, 4. Aus Vinzenz von Beauvais „Speculum historale“, XXVI, 10 |
27
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Vinzenz von Beauvais (französischer Gelehrter, Pädagoge und Dominikaner, auch Vincent de Beauvais genannt, latinisiert Vincentius Bellovacensis), geboren zwischen 1184 und 1194, gestorben um 1264 in Beauvais; war Vertrauter, Kaplan und Bibliothekar von König Ludwig IX. und Erzieher von dessen Söhnen. Seine Werke sind auch für die Geschichte der Alchemie von Bedeutung, da er über 350 alchemistische Autoren zitiert[1]. Er benutzt neben antiken Autoren wie Platon, Plinius der Ältere und Pedanios Dioskurides und spätantiken (wie Isidor von Sevilla) auch viele arabischsprachige Autoren (wie Avicenna und Rhazes). Sein Werk diente unter anderem Geoffrey Chaucer als Quelle. Wikipedia, 02.09.2021, https://de.wikipedia.org/wiki/Vinzenz_von_ Beauvais |
28 |
Schröder, Edward, ebd., Seite 114 - 115 |
29 |
Borck, Karl-Heinz, ebd., Seite 172, 2. aus Wilhelm von Malmesbury, „De rebus gestis Anglorum“ |
30 |
Schröder, Edward, ebd., Seite 115 |